Twitter – Massenmarkt oder Nischenservice?

Disclaimer: Ich muß mal wieder über was schreiben, das genau gar nichts mit Fußball zu tun hat 🙂 Also eine kurze Analyse von Twitters Perspektiven in Deutschland aus meiner Perspektive, weil ich heute einige Beiträge zum Thema gelesen habe.
Wenn ich gleich von Twitter rede, meine ich das Stellvertretend für die Microblogging-Szene als solche. Man verzeihe mir die Generalisierung.

Ich lehn mich grad mal etwas aus dem Fenster und behaupte “wir” bei Twitter sind im Prinzip fast alle “Internet-Visionäre” oder wenigstens Frühadoptierer.
Und “wir” reden jetzt schon davon, wie Twitter, oder alternativ Microblogging als solches, das Leben der Menschheit verändern wird. Während die Menschheit (wenigstens in Deutschland) größtenteils gerade damit kämpft mit dem Internet klarzukommen und die meisten wohl noch nichtmal wissen, was bloggen ist, bzw. Blogs sind.

Da wird darüber nachgedacht, dass Twitter ja in Teilen Email bereits abgelöst hat, dass man den Kontakt mit seinen Bekannten ja inzwischen über ICQ, Skype, Twitter löst, unterwegs aufs Handy guckt um seinen Twitteraccount zu checken, und nichtmehr SMS sondern DMs schreibt.

Ja! Veränderung findet statt. Laufend. Kein Medium hat den Alltag (einiger?) so schnell so stark verändert, wie das Internet. Wir Onlinebewohner sind, was unsere sozialen Rahmenbedingungen angeht so dermassen anders ausgestattet als unsere Vorfahren, dass es kaum noch vergleichbar ist.
Aber wir sind im Vergleich einfach immer noch wirklich wenige.
Selbst die Kids von heute sind lange nicht so “Online”, wie viele scheinbar glauben. Klar, Email, ICQ, Chatrooms, SchülerVZ gehören inzwischen ganz normal dazu, aber trotzdem bleiben viele der Im Web 2.0 gehypten Bereiche eben ganz kleine Nischen. Mehr nicht.

Blogs haben keine wirkliche Relevanz. Twitter erst recht nicht.

Mal ehrlich: Die Zahlen die so kursieren gehen davon aus, dass es in Deutschland zur Zeit irgendwo zwischen 25.000 und 80.000 Twitter-User gibt. Ob aktiv, passiv, corporate, privat, whatever. Wenn man mal von der höchsten Schätzung ausgeht, ist das ein Tausendstel der Bevölkerung. Ein Promil also. Gängige Modelle was die Adaption neuer Technologien angeht, gehen davon aus, dass ca. 2,5% – also das fünfundzwanzigfache als “Innovatoren” gilt (schöne Grafik hier). Innovatoren sind diejenigen, die neue Produkte entweder mit entwickeln, oder ganz am Anfang nutzen.
Selbst wenn wir das auf die Internetpopulation runterbrechen, also auf sowas wie 60-70% der Bevölkerung (ca. 52 Mio.), hieße das, dass wir davon ausgehen müssten, dass ca. 1.300.000 Menschen Twitter nutzen müssten, bevor überhaupt erst die so genannten Frühadoptierer zum Zug kommen.

Das ist natürlich sehr milchmädchen gerechnet. Trotzdem veranschaulicht es finde ich ganz gut, wie relevant Twitter eben für Ottonormaluser ist: Gar nicht. Und denken wir mal über die Verbreitung von “richtigen” Blogs… selbst da sind wir Meilenweit davon entfernt, die breite Bevölkerung wirklich zu erreichen. Einige Ausnahmen (der Klassiker Bildblog) mögen eine relativ breite Leserschaft erreichen, aber auch das sind doch im Vergleich kleinste Fische.

Der Hype, den die Online-Massenmedien lostreten (z.B. dass Spiege-Online jetzt “twittert” und dauernd darüber berichtet) wird sicher einige neue User anspülen, aber ich denke wirklich nur wenige. Denn, wer Twitter über eines der Presseangebote kennelernt, wird kaum den sozialen Reiz des Services kennenlernen.

Kurz das Szenario: Jemand, der Twitter nicht kennt, lernt bei SPON, dass es jetzt die Artikellinks als Tweets gibt, meldet sich bei Twitter an, hat einen eigenen Account und folgt zunächst SPON. Evtl. auch noch ein oder zwei anderen Zeitungs- oder Zeitschriften- oder Newsfeeds bei Twitter. Lernt er so neue Leute kennen? Interaktion mit anderen? Nada. Er bekommt keine Diskussionen mit, sieht keine Referenzen auf andere Twitterer, verknüpft sich selbst nicht weiter. Und wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, höchstens von SpamTwitterern selbst verfolgt. Twitter als reine Verlagerung von RSS Feeds also.

Heißt: Twitter bleibt den Web 2.0-Bewohnern, Bloggern, Netzbekloppten vorenthalten. Wie ich vermute noch wirklich lange, möglicherweise sogar länger, als reine Microblogging-Plattformen überhaupt exisiteren werden.

Die einzige Variante, von der ich glaube, dass sie auch in einer breiteren Masse funktioniert, sind Twitterklone integriert in größere Plattformen. Das, was XING mit dem Status vorgemacht hat, was Facebook jetzt offenbar in der erneuerten Plattform integrieren will, sowas wird sicherlich breiter genutzt werden. Aber auch wieder ganz anders, als Twitter zur Zeit von den verschiedenen Usern (und da gibt es ja auch wieder endlos Unterschiede, von Chat-Tool über Nachrichten-Aggregator etc. Ich bin gespannt, was die Twitterumfrage am Ende an Ergebnissen ausspuckt, aber auch das ist ja nur ein klitzekleiner Anfang, Twitter in der Tiefe zu analysieren).

Fazit?

Wir sitzen alle in unserer kleinen Web 2.0 Nische und hoffen irgendwie scheinbar darauf, dass das, was wir hier machen, irgendwie für eine größere Gruppe “Bedeutung”, Relevanz hat. Hey, hat es auch! Aber eben nur für eine Überschaubare Anzahl an Menschen. Und diese Gruppe wird – davon bin ich ziemlich überzeugt – nur sehr langsam wachsen. Wenn überhaupt. Dazu sind die Interessen von “Normalos” einfach zu unterschiedlich zu dem, was uns Web 2.0-Fuzzis so umtreibt. Bei aller Heterogenität, die sich im Web 2.0 so finden lässt.

Und was jetzt?

Wenn ich mich in den letzten Wochen oder Monaten in meinem erweiterten Bekanntenkreis umschaue, bekomme ich ungefähr folgenden Eindruck von mehr oder weniger relevanten Themen des Alltags:

  • Benzin ist zu teuer und wird immer teurer
  • Meine Geldanlagen sind in den letzten Monaten entwertet worden
  • Den Regierenden ist egal wie es dem Volk geht, die wollen nur ihren eigenen Vorteil
  • Wir brauchen dringend schärfere Gesetze, wer hier alles mit Bewährungsstrafen davon kommt…
  • Der Umweltschutz muß viel mehr beachtet werden
  • Firmen die aus Deutschland abwandern vernichten hier wichtige Arbeitsplätze
  • Milch ist viel zu billig, die armen Bauern
  • Die Regierung(en) sind unfähig
  • Der Kaffee aus Fairem Handel in Südamerika ist der beste
  • Wir verschwenden Energie, wir müssen dringend was tun um unseren Energieverbrauch zu senken
  • Die Lebensmittelkosten treiben uns noch alle in den Ruin
  • Die Großkonzerne sind böse und wollen nur unser Geld
  • In der dritten Welt verhungern viele, weil sie weder Arbeit noch Lebensmittel zum überleben haben
  • Im idealfall ernährt man sich von Lebensmitteln die von lokalen Landwirten kommen
  • Die Vorstände stecken sich doch eh alles in die eigene Tasche
  • Ohne Auto kann ich mich gleich umbringen, wie soll ich dann irgendwohin kommen
  • Die Gesetze sind viel zu überzogen, man kann sich ja nichtmehr frei bewegen ohne auf Schritt und Tritt verdächtigt zu werden

Die Liste könnte ich noch eine Weile so weiter führen. Viele der Aussagen darin können wechselseitig von ein und der selben Person in unterschiedlichen Unterhaltungen gekommen sein.

Aber das Dilemma könnte sich da oben schon abzeichnen. Was oder wohin wollen wir eigentlich? Individualisierung um jeden Preis. Persönlicher Wohlstand und Wahlfreiheit, Entscheidungsfreiheit, berufliche Perspektiven, Bildung, Arbeit und Flexibilität für jeden. Umweltschutz, Gleicherechtigung. Spass am Leben, Freizeit, Urlaub in fremden Ländern, Kulturelle autonomie. Schutz vor Kriminalität, freiheit des Einzelnen. Deutliche Verbesserung der Ausgangsbedingungen der Menschen in den Drittwelt- und Schwellenländern.

Das Problem damit ist nur, dass wir (alle) offenbar Ziele und Wünsche haben, die sich widersprechen. Wer sich für mehr Umweltschutz ausspricht muss Konsequenterweise klar gegen den Individualverkehr wie er heute praktiziert wird sein. Wer gegen die Dominanz von Großkonzernen ist, und dafür, dass denen “mehr auf die Finger geschaut wird”, muß konsequenterweise für einen stärker reglementierenden Staat sein. Wer mehr Individualismus möchte, kann eigentlich nicht für mehr Demokratie sein. Wer für bessere Bedingungen in anderen Ländern ist, darf sich nicht darüber beschweren, wenn gleichzeitig die Bedingungen hier schlechter werden. Einfache Mengenlehre: Wenn es Menge N zu verteilen gibt, und in einer Ecke der Welt zuwachs benötigt wird, dann muß irgendwo anders N weniger werden.

Mein beschränkter Horizont bietet mir folgende Kontrast-Szenarien an: Entweder wir entscheiden uns für ein weitgehend individualisiertes System, mit den bekannten Schwächen. Ausreißer, die über die weichen Grenzen hinaus schießen, mögliche Dominanz von einzelnen (bzw. einzelnen Organisationen), Verteilungswettkampf, Entwicklung. Oder wir legen uns fest. Definieren, was für jeden das Beste ist und versuchen eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder das für ihn “Beste” bekommt.

Klar gibt es Mittelwege, aber im Großen und Ganzen läuft es doch auf diese beiden Varianten hinaus. Und die Mittelwege bringen die dauernde Balance zwischen beiden Extremen mit sich.

Nur wo ist dieser Mittelweg? Was wollt “ihr”? klar weiß jeder (mich eingeschlossen) hunderte Dinge, die ihm nicht passen. Aber was passt uns? Und was muß wie laufen, damit es uns nicht mehr nicht passt? Was sind (eure) wesentlichen Ziele, von denen ihr denkt, dass wir alle, die Welt, die Gesellschaft, sie erreichen muß? Was sind die Opfer, die ihr dafür bereit seid zu bringen? Lippenbekenntnisse sind immer einfach. Die 20 Cent für Biomilch tun mir nicht weh, aber wo ist die Grenze?

Schreibt was! In euren Blogs oder hier in den Kommentaren. Würde mich wirklich über Feedback oder den einen oder anderen Beitrag freuen! Ich werde mich dann auch mit “meiner” Perspektive revanchieren. Curis Weltmodell.