Vom Können und Wollen

Die so: Klimakatastrophe, Dinge, alles ganz schlimm, müssen was machen. Hier, Energieverbrauch (Fossile Energien!!) ganz dringend runterschrauben. Weniger Auto, weniger fliegen, weniger Fleisch, CO2 ist das Problem!

Du so: Jaja, klar, ganzganz wichtig, verstehe. Supersache. Aber ich kann leider nicht.

Das Klima so: Ups. Achso. Dann äh… Ja, sorry, ichhabnixgesagt.

Ich wohn ja selber aufm Vordorf. Hab das Auto an der Straße stehen und wenn dieser Pandemiebums vorbei ist und das mit dem Homeoffice vielleicht nicht mehr zum täglichen Regelbetrieb gehören sollte, muss/soll/darf/kann ich dann vermutlich auch wieder den „langen“ Weg in die Stadt und ins Büro auf mich nehmen.

„Kannst Du auf Dein Auto verzichten, Curi?“ „Nee, kann ich nicht!“

Aber eigentlich, ehrlich… ganz ehrlich? Doch, können könnte ich wohl schon, wollen will ich aber irgendwie dummerweise nur so halb. Hey, Hybrid, vielleicht danach auch ganz Elektro, ich mach doch schon, ich geb‘ mir doch Mühe. Pfandflaschen, Biogedöns, Unverpacktläden. Nachhaltigkeit und so.

Jedenfalls: Ja Johannes, vermutlich wird es ganz arg spürbar teuer, wenn durch wenauchimmer der Benzinpreis jetzt noch mal nennenswert (10 Cent/Liter also äh..Prozentrechnung und so: ca. 7%!!*) angehoben werden wird. Versteh ich. Und wenn Du im Jahr Deine 10.000 Liter verbrauchst sind das natürlich relativ simpel zusammenzurechnende 1.000€ an Mehrkosten. Das ist viel Geld. Für einige sehr viel. Für einige natürlich auch zu viel (im Sinne von: Die können das dann wirklich nicht mehr bezahlen). Verstehe ich. Weiß ich. Isso.

*) Benzinpreisexkurs: Bisschen verkürzend, ABER: Ganz eigentlich hat ja die große Koalition den Benzinpreis schon schrittweise um 15 Cent angehoben und die Grünen wollen wohl auf insgesamt 16 Cent, also EINEN Cent pro Liter mehr. Ich bin zu Faul für Euch prozentzurechnen, aber! 

Für die meisten gilt bei sowas aber erstmal, dass „kann ich mir nicht leisten“ dann oft eben auch viel mehr ein „will ich mir nicht leisten“ ist. Weil dann müsste woanders gespart werden. Ist ja auch legitim. Wir alle sind mit genau diesen Gedanken groß geworden. Und für viele ist es bisher ja wirklich so gelaufen, dass „wenn ich mir ’n neues Smartphone kaufe, kann ich weniger feiern gehen“ das Diskursniveau war.
Aber wenn wir uns den Smartphone vs. Feiern-Vergleich mal kurz angucken, ist es ja schon meine Entscheidung. Kauf ich mir ’n neues Telefon, oder geh ich feiern und hab noch ein Jahr lang mein altes Telefon? Was will ich? Was ist mir wichtiger? Ich kann das, was ich will, ich muss mich nur entscheiden.

„Kannst Du auf Dein Auto verzichten, Curi?“

Na ja. Ich könnte mit dem Bus in die Stadt (und ins Büro) fahren. Der fährt halt nur einmal pro Stunde. Ziemlich unkomfortabel. Sehr unkomfortabel. Vor allem sehr unflexibel. Zurückkommen müsste ich dann planen. Wann lass ich den Stift fallen, bzw. klappe ich den Laptop zu? Wie muss ich los, damit…?
Ich könnte zu Fuß zum Lebensmitteleinkauf gehen. Sollte, wollte ich eh viel häufiger machen. Könnte ich also. Zu Fuß. Klar, schwere Sachen sind dann (ha. Ha.) schwieriger, aber ohne Auto wäre ja sogar gelegentlich mal Geld für ein Taxi drin. Oder die Lieferkosten beim Möbelkauf oder so. Ginge schon. Bestimmt. Irgendwie.
Spontan ans Meer (oder in den Harz. Oder in den Freizeitpark… egal) wird dann auch schwierig. Weil… aber da fahren irgendwie auch Züge hin. Sollte schon gehen. Ist natürlich unbequemer. Und ich müsste mir die Mühe machen, vorher mal zu gucken, ob Soltau überhaupt einen Bahnhof hat. Und irgendwie ginge mit dem gesparten Geld ja auch mal ’n Mietwagen oder so für nen Ausflug.
Freund*innen in der Stadt besuchen ist dann natürlich auch schwieriger. Aber vielleicht, wenn ich lieb frage, krieg ich für ne Nacht ne Couch. Oder – siehe oben – nehme mir dann doch mal das Taxi. Weil ehrlich gesagt kostet das Auto** ja heute auch schon ziemlich viel. Kaufpreis und Steuern und Versicherungen und Benzin und Verschleiß und Reparaturen und alles. Tjanun.

**) Und wenn ich "ziemlich viel" schreibe, meine ich ziemlich viel! Je nachdem, wen man so fragt kostet das durchschnittliche Auto die durchschnittliche Autofahrende zwischen 300€ und 500€ im Monat und ist damit noch nicht einen einzigen Kilometer gefahren. Das sind nur Kosten, die gerne verdrängt werden. Anschaffung/Finanzierung, Versicherung, Wartung-& Reparaturkosten, Verschleißteile (Reifen!) etc. Und das sind jetzt auch nur die kosten, die die Autofahrerin dafür hinlegen muss, gesellschaftliche Rahmenkosten fanden da noch gar keine Berücksichtigung. 

Und ja, Johannes, natürlich! Wer fährt dann Deine Kinder zum Sportverein und in die Schule!? Wie kommst Du täglich die 120 Kilometer zu Deinem Arbeitsplatz und zurück?!
Ehrlich. Wirklich wahrhaftig ehrlich: Ich verstehe, dass Du keinen Bock hast und nicht magst und das anstrengend und doof und alles ist. Und dass daran was zu ändern scheiße ist. Aber Du kannst das schon. Du willst nicht. Ist ja okay, wirklich. Aber dann sag’s doch bitte auch so.

Die so: Klimakatastrophe, Dinge, alles ganz schlimm, müssen was machen. Hier, Energieverbrauch (Fossile Energien!!) ganz dringend runterschrauben. Weniger Auto, weniger fliegen, weniger Fleisch, CO2 ist das Problem!

Du so: Jaja, klar, ganzganz wichtig, verstehe. Supersache. Aber ich will leider nicht.

Weil – so sorry: Du bist Teil des Problems. (Und ja, natürlich, ich bin das auch. Wir alle sind Teil des Problems!). Wäre aber mal ein Anfang das zu akzeptieren und hinzunehmen.

Und vielleicht wäre es auch mal ne Idee drüber nachzudenken, ob Du Deine Kinder mal fragst, wie sie es finden, wenn Du sie dreimal pro Woche zum Tennisclub fährst und dafür ihr Tennisplatz wenn sie 50 sind voraussichtlich erstmal für ganz lange unter Wasser steht. Und das ganze Dorf drumherum?

Das gilt übrigens nicht nur für Klimaschutz.

Fangt doch bitte alle mal an, zu reflektieren. Was ist können und was ist wollen?
Was ist in Wahrheit Eure Prioritätensetzung, die andere ausbaden müssen?
„Sorry, kann nicht anders!“ klingt zwar erstmal schön, aber damit weist Ihr halt auch für alles jegliche Verantwortung von Euch. Ja, natürlich gibt es „emotionale“ Zwänge, und wir können (ha!) da halt leider oft auch wirklichwirklich nicht aus unserer Haut und die Grenzen sind echt fließend. Aber aufs Auto verzichten oder wenigstens die Nutzung reduzieren könn(t)en die meisten, wollen nur die wenigsten. Und zwar klugerweise (wer Ironie findet, darf sie behalten) obwohl die meisten gleichzeitig eine grüne Stadt wollen und total gerne in Ruhe mitten in der Stadt draußen sitzen würden und den lauen Sommerabend bei einem Glas sonstwas ausklingen lassen. Aber wenn dann jemand auf die Idee kommt für Grünflächen und Außengastro Parkplätze zurückzubauDASGEHTDOCHNICHT!!! DIE WIRTSCHAFT!! WIE KOMMEN DANN KONSUMENTEN IN DIE STADT?!?“!

Aber die Autos!

Entschuldigung. Ich schweife ab.

Jedenfalls… Eigentlich seid Ihr es mindestens Euch selber mal schuldig offen und ehrlich zu sein. Zu Euch! Ehrlich nachgucken, nachfühlen, nachwasauchimmer, was können und was wollen ist. Und eigentlich sollten wir alle doch auch wenigstens gegenüber (engeren) Freund*innen hinkriegen, offen über Dinge zu reden. Nicht nur über Autos.

Chiffriert ist das in vielen Dingen schon drin „Magst Du Sa. mit mir Eis essen gehen?“ – „Sorry, kann nicht, da muss ich zum Fußball“. Ehhh… no! Du willst nicht, Du möchtest zum Fußball. Und logisch, bei solchen Aussagen ist das nicht wild und ungefähr jede*r versteht, was dahintersteckt und meist ist das ja auch völlig fein. „Ich hab schon was vor“. Aber so globalgalaktisch?

Nur mal drüber nachdenken.

Augenblick

Blinzeln null

Augen auf.
Alles hell, alles neu, alles sehen, nix verstehen.
Augen zu.
Essen. Schlafen.
Augen zu.

Blinzeln sechs

Augen auf. Straßenverkehr. Augen zu. Augen auf. Notarztwagen.
Augen zu.
Stimmen.
Nimm das Fieberthermometer in den Mund. Es „piekst“, wenn es gemessen hat.
Augen auf. Weinen. Angst. Augen zu. Augen auf.
Es piepst, weil es gemessen hat.
Augen zu. Einschulung.

Blinzeln zwölf

Augen auf.
Augen auf.
Treppengeländer, Treppenboden. Augen zu.
Papa trägt mich die Treppen wieder hoch.
Augen zu.
Schon wieder der Notarzt.
Augen zu.
Augen auf.
Heute gibt’s irgendwas mit Knödeln. Krankenhausknödel sind eklig.
Augen zu.

Blinzeln achtzehn

Augen zu.
Die coolen Kids haben ne große Party.
Augen auf.
Zuhause am Boden hocken mit den drei besten Freund*innen.
Gesellschaftsspiele. Quatsch machen.
cool.
Augen zu.
Augen auf. Zivistelle suchen. Bewerben.
Augen zu.
Augen auf.
Hingehen. Wohngruppe mit Menschen mit schweren Behinderungen.
Augen zu.
Augen auf.
Eindrücke, so viele Eindrücke. Überforderung.
Wir besprechen mit den Bewohnern, ob wir Dich mögen und melden uns.
Augen zu.
Augen auf.
Wir mögen Dich!
Augen zu.
Augen auf.
Ich fühl mich überfordert. Ich bin nicht der, den Ihr sucht. Sorry.
Augen zu.

Ich sag nicht oft, dass ich mich überfordert fühle.
Aber da.
Augen zu.

Blinzeln zwanzig

Augen auf.
Losfahren. Klientin besuchen. Ersatzenkel als Zivijob. Eigentlich ziemlich gut. Wenig „Arbeit“, aber irgendwie gelernt. Viel Kleines bewegt. Danke, dass Du immer da warst.
Danke fürs zuhören.
Augen zu.
Erwachsen werden.
Langsam.

Augen auf.
Erster Uni-Tag.
Überall Leute. Überall Treppen. Sitze. Chaos. Nichts. Alles.
Augen zu.

Blinzeln achtundzwanzig

Augen auf.
Immer noch erwachsen werden.
Schreiben. Denken. Abgeben.
Augen zu.
Augen auf.
Abschlussfeier.
Es gab Bifi-Snacks und billigen Sekt, weil das Uni-Sekreteriat es irgendwie verballert hatte.Weil die Hiwis (wir…) na ja.
Bifi-Snacks zum Diplom.
Stilvoll.
Augen zu.

Blinzeln dreiundvierzig

Augen auf.
Porto. Die Atlantikküste.
Gestern war Portwein.
Heute das Meer.
Augen zu.
Augen auf.

Blinzeln sechsundvierzig

Augen auf.
OP-Tisch. Wir heben Sie kurz rüber.
Augen zu.
Augen auf.
Krankenhausbett. Die OP lief wie gewünscht. Sie bleiben jetzt bitte die nächsten sechs
Stunden auf dem Rücken liegen und achten darauf, dass der Druckverband drauf bleibt
.
Augen zu.
Augen auf.
Unbequem.
Augen zu.
Augen auf.
Acht Stunden später.
Augen zu.
Augen auf.
Neun Stunden später:
Ja, jetzt kann der ab und Sie dürfen aufstehen.
Augen zu.

Augen auf.

Blinzeln

Wann war eigentlich gestern?

Homeoff

Hallo Wand, alte, blasse Freundin hinter dem großen Bildschirm.
Hallo Regale. Darf ich Euch noch Obstkisten nennen?
Hallo Bücherrücken.
Hallo Yoshi.
Hallo Zecki.
Hallo Kenny.

OH MY GOD, THEY KILLED KENNY!

A propos. Hallo Tod.

Ein Bild von einer zum Regal umfunktionierten Obstkiste auf und in der verschiedene Plüschtiere sitzen: Kenny aus Southpark, der Tod aus Nichtlustig. Zecki, das 1.April-FC-St.-Pauli-Maskottchen und Yoshi aus dem Mario-Universum.
Was oder wer eins eben so anguckt.

Flashbacks

Februar

Diskussionen darüber, ob/wie/wann eins mal ausnahmsweise im Homeoffice arbeiten darf/kann/sollte.
Wie geil wir es finden, wenn Mitarbeiter*innen nicht am Präsenzarbeitsplatz aufschlagen. Außerhalb von „muss heute von zuhause…die Heizungsableser*innen“ oder so-Gründen.

März

Und dann ging irgendwie alles ganz fix. „Wir stellen es jede*r frei, zuhause zu arbeiten“. Die alte Schreibtischplatte reaktiviert, zwei Böcke zum drunterstellen von Mamas Dachboden später und dank aus dem Büro nach Hause gefahrenem Schreibtischstuhl plötzlich ein „richtiger“ Arbeitsplatz zuhause.
Nicht mehr im Schneidersitz vorm Laptop.
Das hat zwar für einen Tag mal funktioniert, aber macht mittelfristig wohl doch eher Rücken als glücklich.

April

„Könnt Ihr mich hören?“

So langsam wird es zur Gewohnheit die Wand anzustarren.

Während ich „richtig“ im Heimbüro ankomme und wir den Umzug aus dem Präsenzoffice glaube ich ganz gut bewerkstelligen, schlägt einfach der erste „Lockdown“ (ich möchte es eigentlich „das Lockdownchen“ nennen) durch.

Gefühlt macht alles Pause.

Und rumsitzen und die Wand anstarren macht (mir) böse Gedanken und Gefühle. Ich kann eh nur begrenzt gut „nixtun“. Wochenlang? Uffffff.

Vor allem, wenn gerade eh überall nicht so viel zu tun ist, wie vielleicht sollte. Wenn keine Produktivitätsarbeit dabei nicht mal mit Sozialkontakten kompensiert werden kann. Wenn aus „jedes Wochenende unterwegs – Fußball, Fahrten, Freund*innen“ tageintagaus rumsitzen und die Wand (und die Monitore) anstarren wird.

Videocalls werden nicht nur beruflich der neue heiße Scheiß.

Und so schön es ist, so einen Weg zu haben Freund*innen zu sehen und hören und… zu fühlen irgendwie. So sehr starre ich durch alles durch eben auch und vor allem immer noch auf die Wand.

Und eigentlich gehen auch einfach die Themen aus.

„Und Du so?“
„Rumsitzen, Serien gucken“
„Joah.“
„Joah…“

Juli

Könnt Ihr meinen Screen sehen?

Ja, können wir. Das da, vor der Wand.

Der Sommer macht alles irgendwie…etwas leichter.
Sozialkontakte finden zumindest gelegentlich und mit Distanz und größerer Vorsicht wieder statt. „Umarmen wir uns?“ – „Mh. Mit Maske vielleicht?“

Aber ehrlich gesagt ist dazwischen die Wand anstarren bei 35° auch nicht signifikant besser als bei 10°.

August

„Ich muss kurz an die Tür, Pakete. Moment!“

Auf der einen Seite hab ich mich glaube ich an alles ganz gut gewöhnt und mit allem ganz gut arrangiert. Tägliches „rentnern“ (spazieren, ggfs. mit Supermarktbesuch), um wenigstens irgendwie in Bewegung zu bleiben und mal was anderes zu sehen als die Wand oder die Screens vor der Wand oder die Wand durch die Screens oder die Kolleg*innen in der x-ten Videokonferenz.

Mal ab von allem anderen: Irgendwie entgleist das auch alles. Die Videokonferenzitis strengt mich gelegentlich unfassbar an. Müssen wir echt für Je-des Thema nen „Call“ machen?

Aber die Wand anschreien ist ja auch keine Lösung. Die Wand kann nix dafür.

Und als dann gerade doch eigentlich mal alles gut ist macht der Körper lustige Dinge und Du liegstsitzt ein sehr langes Wochenende spontan im Krankenhaus und denkst Dir „upsi“.
(Lauter denken. Und mit mehr Gruseln lesen bitte. Noch mehr Gruseln. Ja. So „UPSI!“)

Ich bin geneigt ein „zum Glück am Ende nichts passiert“ hinterherzuschieben, aber so ganz stimmt das dann wohl doch nicht. Auch wenn’s mir zum Glück genauso geht wie davor.

Trotzdem „Aus versicherungstechnischen Gründen dürfen Sie erstmal drei Monate kein Fahrzeug führen“ ist doof. (nein, da war kein Alkohol oder sowas im Spiel). Und UPSI! ist jetzt auch nix, was ich noch mal haben will.

September

„Bewegen Sie sich!“

Ich bin noch nie so viel spazieren gewesen, wie im September. Das ist gut, weil ich so keine Wand mehr zum draufstarren vor mir habe. Also außer im Büro.

Ich bin seit März zum zweiten Mal persönlich in der Firma. Wie verstörend. Und alles ist seltsam und ungewohnt und weißichauchnicht. Zu dritt „bevölkern“ wir die leeren Räume. Jeder im eigenen Büro. Das eine Meeting in der Küche, 3-4m Abstand zwischen allen, Fenster weit auf. Auf ne sehr ruhige Art finde ich Pandemie hochspannend. Auch wenn ich das trotzdem lieber als Doku auf ARTE gesehen hätte.

Die Wand gibt Sicherheit, merke ich. Die Wand kriegt kein Covid und gibts mir vor allem nicht weiter. Die Wand trägt ihre Maske wie vorgeschrieben. Die Wand kommt mir nicht näher als sie soll.

Oktober

„Das geht ganz schnell und nach einer Nacht dürfen Sie schon wieder nach Hause“

Aus dem August-Upsi ergab sich ein Oktober-sollten wir mal. Spannend, was die moderne Medizin so alles irgendwie nebenher auf die Reihe kriegt. „und dann gehen wir an der Leiste durch einen kleinen Schnitt durch das große Blutgefäß ins Herz und da…und nach 20 Minuten wachen Sie wieder auf.“ Jedenfalls hat mir Arzt 1, der mit mir telefonisch den Termin plante versichert, ich wäre nach einer Nacht wieder draußen. Arzt 2, der mir dann nach dem Eingriff auf Station versicherte, es sei alles im Plan wollte mich dann aber „das ist so üblich“ lieber noch ne zweite Nacht. Ich will mich hier echt nicht beschweren, ich fühlte mich medizinisch meist wirklich gut aufgehoben, aber das mit der Kommunikation ist so ne Sache…

Die Wand schweigt.

Oktober ging dann trotzdem irgendwie ganz schnell. Trotz Pandemie schien es wieder „normaler“ zu laufen. Wenigstens am Schreibtisch. Die Blicke auf die Wand wurden seltener, weil der Screen davor wieder ausreichend Inhalt hatte. Und vielleicht auch, weil der Kopf dadurch nen Fokus hatte. Aus „vorübergehend zuhause Arbeiten“ wurde irgendwas anderes. Ein neuer Status Quo. Nicht besser oder schlechter. Einfach anders.

Vermisst Ihr Eure Präsenzarbeitsplätze?

Ich vermisse den Küchentalk mit meinem Team, vermisse es „Dinge mitzukriegen“, ohne mir Informationen holen zu müssen, weil irgendwer eben darüber redet. Vermisse die gemeinsamen Mittagspausen. Gleichzeitig funktioniert das mit dem Arbeiten doch ziemlich smooth.

November

„Du musst Dich immer noch entmuten!“

Erinnert Ihr Euch an „drei Monate kein Fahrzeug führen“? Ich mich jedenfalls besser als ich will. Der Hausarzt meinte schon im August ganz direkt zu mir „Holen Sie sich jetzt einen Termin beim Spezialexperten, der Ihnen dann die Fahrtauglichkeit wieder bescheinigt. Die sind schwer zu kriegen“. Faszinierenderweise ging das problemarm und der Termin ist Ende November.

Dachte ich. Also… nee anders: An einem Montag im November gegen Mittag ist der Termin. Anrufe vor neun empfinde ich als störend. Anrufe vor neun „Leider ist der Spezialexperte erkrankt“ empfinde ich als unglücklich machend. Neuer Termin Ende Dezember. Ja, geil. Der Spezialexperte hat anscheinend auch keine verfügbaren Spezialexpertenkolleg*innen und überhaupt. Nun.

Übrigens darf auch krankenversicherter Mensch hier den Spezialexperten selbst bezahlen, weil das keine Kassenleistung ist. Also alles andere schon, aber dafür… Na, ich will mich eigentlich echt nicht beklagen.

Komisch. Die drei Monate ohne Auto gingen ganz leicht. Trotzdem war der „verschiebe-Anruf“ ein ziemlicher Stimmungskiller. Als hätte ich mich an diesem Termin festgehalten. Na ja. Hilft ja nix. Übertönt irgendwie aber auch alles, was im November sonst noch so war.

Die Wand steht jetzt zwischen meinem Auto und mir.

Dezember

„Wir können Deinen Screen sehen! JA, DAS AUCH!!“

Spektakuläre Änderungen werfen ihre Schatten voraus: Die Wand leuchtet jetzt bunt.

ICH WAR BEIM FRISEUR! Und fühle mich sogar halbwegs frisiert. Highlights, 2020-Style. Wenn die Kolleg*innen das im Videocall sogar wahrnehmen, sagt das ja auch was über Covid-Hairstyles aus. Überlege, ob meine Wand meinen Style mag. Wahrscheinlich isses ihr einfach egal.

Ach und: Können wir bitte endlich aufhören für jeden Scheiß ein Meeting zu machen? Teils sitze ich acht Produktiv-Stunden am Rechner und hab hinterher das Gefühl, nix getan zu haben als in Videocalls zu sitzen. Und ja, bestimmt gehört das auch dazu, aber effektiv geht an Stellen echt auch anders.

Nach Weihnachten dann wirklich der Termin beim Spezialexperten. Testergebnis wie gewünscht. Yay! Test hätte meiner Meinung nach auch online und zuhause stattfinden können. Aber vermutlich ist der danebensitzende Spezial“ich schalte den Computer jetzt ein […] ich drücke jetzt auf Start„experte einfach zu wichtig. Wäre für mich klarer Fall von „und dafür hab ich jetzt studiert?“…well.

Rechnung und Gutachten schicken sie mir dann zu. Danke.

Jahreswechsel. Und trotz Pandemie und an-die-Wand-starren ist gerade mal alles fein.

Januar

Ich sag jetzt nicht mehr, dass ich jemanden nicht hören kann. Ich unterstelle jetzt Absicht. Glaube je nach Gegenüber finden Gegenübers das mal mehr, mal weniger schnafte, aber irgendwie ist jetzt auch langsam mal genug mit Education für andere. Fühle mich einfach nicht angesprochen. Funktioniert in der Praxis verstörend gut und ich frag mich inzwischen echt, wie viel Content in Videocalls ich mitkriegen muss, und ob es nicht eigentlich viel schöner wäre, 3/4 der Teilnehmenden einfach random zu muten und zu gucken, was dann produktives passieren könnte. Gelegentlich ist der Blick an die Wand furchtbar attraktiv geworden.

„Können Sie mich hören?“

Überraschung? Ja.

Videocalls (privat, beruflich, whatever) als Sozialexperiment.
Ich fange an in Typen zu clustern.

  • Der mit dem wechselnden Hintergrund (quasi die Fips-Asmussen-Variante).
  • Der mit dem Kind (abweisend)
  • Die mit den Kindern (zugewandt)
  • Der Abwesende (der nach 10 Minuten Meeting vergessen hat, worüber wir eigentlich reden, auf Ansprache erstmal hektisch den Entmute-Button sucht, aber dabei schon beginnt zu reden)
  • Die mit dem Kaffee (immer ein Getränk in der Hand. Glaube, das bin ich)
  • TBD

Februar

„Seid doch alle mal ruhig“

Du kannst halt schon mit 12 Leuten im Videocall sitzen, aber ohne Moderation ist einfach nix. Und wenn alle durcheinander reden hörst Du halt 11x white Noise. Statt den Mute-/Unmute-Button des Mikros sind der „Kopfhörer-Aus“-Knopf und ich inzwischen beste Freunde.

Die Wand und ich sind inzwischen sowas wie alte Bekannte. Fast ein Jahr schon. Faszinierend. Gestern den Schreibtischstuhl heimgebracht im letzten März. Vorgestern war ich noch beim Auswärtsderby im Volkspark. Zwischen gestern und Vorgestern noch in voller Gewohnheit im Präsenzoffice.

Mal gucken, wie lange wir uns noch so anstarren. Meine Wand und ich. Wir haben uns aneinander gewöhnt. Hatten gute und schlechte Tage.

Die Rechnung vom Spezialexperten hab ich übrigens immer noch nicht.

Wie heißt eigentlich ein Internetausfall im Homeoffice?