Mut zur Irrelevanz

Vor gerade mal einer Woche hab ich selbst ja darauf hingewiesen, dass wir Web2.0er, wir Blogger, Microblogger, Podcaster und Vlogger, Social Network-Bewohner, wir Webcontent-Ersteller alle zusammen wichtig sind. Relevant.

Wenn wir wollen.

Und ich bin fest davon überzeugt, dass das zutrifft. Wenn wir als große Gruppe wollen, sind wir relevant. Aber als Einzelner?

Die Zeit macht sich bei mir gerade sehr beliebt mit einer Reihe von guten Artikeln im Zusammenhang mit dem Zensursula-Themenkomplex, Internet, Web2.0. Der letzte davon ist von gestern: “Die Medien-Revolution, die keine ist”.
Vermutete drölfmillionen klassische Pressetexte zu Twitter & Co. sind bisher sinnloserweise zu dem Ergebnis kommen, dass wir ja alle nur und überwiegend belangloses Zeug rauspusten. Und deswegen wären wir langweilig, überflüssig, unnütz und vor allem genau gar nicht journalistisch oder gar relevant.
Und deswegen natürlich auch abzulehnen.
Jetzt scheint die Zeit, bzw. Autor Fabian Mohr, es verstanden zu haben.

Ja, wir sind meistens belanglos, langweilig, alltäglich. Und das ist kein Problem. Denn – trotz allem Sendungsbewußtsein, dass wir alle sicherlich haben, darum geht es uns, meist gar nicht. Mir definitiv nicht. Genausowenig, wie ich mit diesem Blog den Anspruch erhebe, große Massen anzusprechen, zu informieren oder zu unterhalten.
Klar, ich freu mich über jeden Leser, jeden Kommentar. Genauso wie ich mich in Twitter darüber freue, wenn jemand meine Tweets gut findet und vielleicht sogar darauf reagiert.

Aber eigentlich sind beide Kanäle erstmal nur Spielzeug. Meine ganz persönlichen Kanäle nach draußen. In denen passiert, was mir durch den Kopf geht, was ich möchte. Und wer mich lesen mag, darf das (in der Regel) gerne tun, und wer nicht… liest halt weg. Wem egal ist, dass ich mich morgens über meinen Kaffee freue, egal ist, wenn ich mich über Tore meines Vereins freue, mit Freunden oder Onlinebekannten rumalbere, bitte. Ich zwinge nicht dazu. Ich schreib nämlich erstmal für mich. Nicht für euch da draußen.

Aber offenbar gibt es einen Teil der Welt, den das interessiert. Auch wenn sie mich teils wirklich nur über Twitter kennen. Genauso wie mich bei einem Teil der Welt interessiert, wenn sie ihren Kaffee trinken oder Mittagspause machen. Wenn sie traurig sind, weil Michael Jackson gestorben ist, oder darüber Witzeln. Meine kleine, persönliche Online-Welt. Und wer mich langweilt oder nervt, wird halt unfollowed. Den lese ich dann nicht mehr. Fertig.

Und seien wir ehrlich: So funktioniert Alltag. Das sollte auch jeder Journalist kennen, der meint, Twitter wäre blöde und langweilig. Setzt euch in ein Restaurant, eine Kneipe, telefoniert mit euren Freunden, redet mit euren Kollegen. “Gestern hab ich das erste Mal Straussenfleisch gegrillt, war das lecker!”. “Meine Mutter kommt morgen ins Krankenhaus, ich werd wohl etwas früher gehen, will sie besuchen”. Hört Ihr da weg? Sind eure Freunde oder Kollegen dann langweilig?

Und alle Jubeljahre bekommt Twitter dann übergreifende Relevanz, zeigt, was sonst noch darin steckt. Vernetzung. Und damit zusammenhängend: Geschwindigkeit.

Fünf Minuten, nachdem TMZ spekulierte, dass Michael Jackson tot war, war die halbe Twitterwelt im Thema. Inklusive verlinkter Quelle (!).
Und damit ungefähr eine halbe Stunde, bevor die ersten “klassischen” Medien auf ihren Online-Auftritten reagiert hatten. Übrigens mit Berufung auf die selbe Quelle. Das ist genauso seriös oder unseriös. Kurz die gängigen Quellen abgrasen können wir nämlich auch. Nur sind wir 10.000 oder mehr und finden damit notfalls auch schneller mehr Quellen.

Protestierende im Iran vermitteln ein Gefühl dafür, was da gerade abgeht. Subjektiv, persönlich, ungefiltert.
O-Ton würde man wohl bei Journalisten sagen. Das ist nicht die ganze Wahrheit, aber es erhebt auch gar nicht den Anspruch. Wer das versteht, versteht auch Twitter.

Niemand würde fünf Demonstranten interviewen und darauf basierend einen Artikel veröffentlichen, der von sich behauptet das komplette Thema abzubilden. Aber genau das ist die Anspruchshaltung vieler an Twitter und Blogs. Jedenfalls wirkt es so.

Wer so denkt, hält jeden Tweet, jedes Blogposting für eine Presseerklärung. Sucht krampfhaft in allem was als Text vorliegt Bedeutung oder Sinn, weit darüber hinausgehend, was wir selbst da rein legen wollen oder können.

99% von dem was ich sage – und ich glaube das gilt für die meisten anderen auch – ist nur für mich und einige andere von irgendeiner Bedeutung. Wer sich für mich interessiert, findet es vielleicht auch schön zu sehen, dass ich morgens Kaffee trinke, oder um 12:30 Pause an der Alster mache. Lernt mich darüber vielleicht etwas besser kennen. Den Menschen hinter dem Text. Und darum geht es erstmal. Menschen. Nicht Presseerklärungen.

Es geht um Menschen. Wer das versteht ist herzlich willkommen. Wer hier höhere Relevanz sucht möge bitte weitergehen.

Hier gibt es nichts zu sehen.

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17 Gedanken zu „Mut zur Irrelevanz

  1. Hatte genau dieses Thema gerade am Telefon. Werde diesen Link gleich mal weiterleiten, der Text trifft den Nagel auf den Kopf.

  2. Etwas fehlt aber, Herr Curi0us, das muss ich leider sagen.

    Ganz unten nach dem Texz die gepunktete Linie, auf der ich unterschreiben kann.

    😉

  3. Die letzten Einträge haben es genau wie Dein Text zur Gänze auf den Punkt gebracht! Dem kann ich mich nur anschließen: das ist die Quintessenz von Twitter und den meisten Blogs!

    Chapeau!

  4. Ich bin beeindruckt. Sehr schön. Gäbe es eine „Best of …“ der Blogeinträge, der Beitrag hier wäre in den Top Ten ganz oben!

  5. Nun, gerade der gestrige Tag bringt deutlich an den Tag wie langsam Print für die heutige Zeit geworden ist: sie werden also heute (!) 24 Stunden später titeln, dass MJ tot ist. Für mich ist die Meldung dank Internet im Grunde so alt, dass ich heute schon weiß, dass eine zweite Autopsie anberaumt sein soll …

    Das mit der Relevanz ist ja auch relativ, wir sind immerhin so wenig relevant, dafür aber so exotisch, dass man ständig mit Magengrummeln auf uns guckt und uns zu Talkshows einlädt und mal gelassen, mal wohlwollend, mal mit spitzen Fingern über uns berichtet. Insofern verschafft uns unsere aus der Nichtrelevanz geborene Exotik deutliche Relevanz …

  6. Sehr gut…

    Bei jeder folgenden Diskussion über Twitter & Co. werde ich hier hin verlinken! Oder noch besser – für die Nicht-Internetnutzer es ausdrucken und in meiner Tasche immer dabei haben.

    Wirklich, sehr sehr gut…

  7. Sehr gut und treffend ausgedrückt!
    Wo darf ich unterschreiben …

  8. Sehr gut! Das denke ich auch. Ich finde es nicht langweilig, wenn jemand etwas über seinen Alltag schreibt. Denn das ist Leben.

  9. Gut geschrieben.

    Ich freue mich in meinem Blog, wenn nur einer (!) auf meinen Text reagiert. Dann bin ich zufrieden und fühle mich gut.

    Toller Beitrag.

  10. @creezy klar. Mir geht es ja auch eher darum, dass nicht jeder einzelne Tweet so relevant ist wie der Leitartikel der FAZ 😉

    @Alle DANKE!

  11. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

    Aber eine Frage hätte ich noch, völlig OT… ist der Leitart-Igel der FAZ ein sehr süßes Tierchen? 😉 SCNR!

  12. @Pleitegeiger *seufz* Jaja, schon korrigiert. Hmpf, jetzt brauch ich sogar ein Lektorat für meine Kommentare… 🙁

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